Sound der Freundschaft
Bereits zum 13. Mal trafen sich in Rendsburg zwölf Menschen mit Handicap aus den Werkstätten der NGD-Gruppe zu einem musikalischen Workshop. Ihr Ziel: Unter der Leitung von Profimusikern der Band Godewind gemeinsam Musik machen und dabei zu einer Band zusammenwachsen, die im Rahmen des jährlichen Festivals „musik in uns“ vor Publikum live auftreten wird. Dabei wurden mit großer Freude in kürzester Zeit nicht nur ein musikalisches Programm und ein Bandname entwickelt, sondern auch überraschende Gemeinsamkeiten entdeckt.
„Jetzt sind wir Freunde. Yeah! Musik verbindet!“, ruft Sänger Michael Schulz voller Euphorie ins Mikrofon. Während er seinen linken Arm jubelnd in die Höhe reißt, zeigt sein rechter auf Marc Zerrahn, der ein paar Meter weiter ebenfalls als Sänger auf der Bühne steht. Der nickt zunächst ganz rockstar-like mit gespielter Lässigkeit in Richtung seines Band-Kollegen, kann sich ein gerührt-glückliches Lächeln aber doch nicht ganz verkneifen. Gemeinsam haben die beiden gerade ihre Version von „Flieg junger Adler“ von Tom Astor zum Besten gegeben und die begeisterte Zuschauerschaft klatscht sich fast die Hände wund.
Was sich anfühlt wie ein kleines feines Exklusivkonzert, ist das Workshop-Abschlusskonzert der Band SOUNDBÜFETT, die sich in Rendsburg drei Tage lang auf das integrative Musikfestival „Musik in uns“ vorbereitet hat. Das findet seit über 15 Jahren jeweils im Herbst in der Rendsburger Nordmarkhalle statt und bietet neben namhaften Künstlern auch Musikern und Musikerinnen mit und ohne Handicap eine musikalische Bühne. Gustav Peter Wöhler war schon da, Godewind und Saxxon, Torfrock, Lotto King Karl und Roger Willemsen. Im Herbst 2019 wird dann SOUNDBÜFETT das musikalische Spektrum bereichern und gibt heute schon mal eine Kostprobe des eigenen Könnens.
Die zwölf Bandmitglieder kommen aus unterschiedlichen Einrichtungen der NGD-Gruppe für Menschen mit Behinderungen und sind aus ganz Schleswig-Holstein angereist. Warum sich dieser Bandname, den sich die Teilnehmenden selbst gegeben haben, am Ende des dreitägigen Workshops unter anderem gegen Vorschläge wie „Herzregen“, „All you can listen“ oder „Die Soundchecker“ durchsetzen konnte, liegt für Sänger Michael Schulz auf der Hand: „Bei uns ist einfach für jeden was dabei.“
Welche Songs für den Auftritt einstudiert und geprobt werden sollten, konnten die Teilnehmenden selbst bestimmen. Aus sämtlichen Vorschlägen wurden durch Diskussion, Überzeugungsarbeit und demokratische Abstimmung letztendlich neun Stücke ausgewählt. Die sind nicht nur eine abwechslungsreiche Reise durch die persönlichen Musikgeschmäcker, sondern auch durch etwa vier Jahrzehnte deutscher Musikgeschichte: Neben dem fliegenden jungen Adler wurden unter anderem Publikumshits wie „Du hast mich tausendmal belogen“ von Andrea Berg oder „Wolke 7“ von Vanessa Mai performt. Für ordentliche Mitsing- und Mitklatsch-Stimmung sorgten Jürgen Drews’ „Ein Bett im Kornfeld“ und „Wahnsinn“ von Wolfgang Petry.
„Entstanden ist die Idee zu ‚Musik in uns’ im Jahr 2003, dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“, erinnert sich Birgit Schatz. Die Einrichtungsleiterin der Werkstätten Rendsburg-Fockbek ist gleichzeitig Organisatorin des Festivals, verantwortlich für den Ablauf der jeweils vorausgehenden Workshops und spürbar mit vollem Herzen dabei. Während der drei Workshop-Tage ist sie unermüdlich unterwegs: löst größere und kleinere Probleme, ist jederzeit ansprechbar und hat immer ein freundliches Wort oder einen flotten Spruch auf Lager. „Das Festival allein war schon eine tolle Sache, aber uns fehlte noch ein konkretes Bindeglied zu den Menschen aus unseren Einrichtungen“, erinnert sich Birgit Schatz an die Anfangsphase des Projekts. Und da sie schon damals nicht der Typ war, der so etwas einfach auf sich beruhen lässt, war die Lösung schnell klar: „Also haben wir uns 2007 dazu entschlossen, in jedem Jahr eine neue Band auf die Beine zu stellen, bei der jeder mitmachen kann.“
Damals hatte die schleswig-holsteinische Band Godewind spontan angeboten, diese Workshops zu begleiten und die angehenden Bandmitglieder zu coachen. „Zu Godewind gab es bereits Kontakt durch unsere vorhergegangenen Festivals, bei denen sie auch als Paten aufgetreten waren“, sagt Birgit Schatz. Aus den Paten wurden also Coaches, die mittlerweile den 13. Workshop dieser Art für die NGD-Gruppe geleitet haben. „Wir freuen uns in jedem Jahr wieder auf drei Tage voller besonderer Menschen und ihre mitreißende Begeisterung für die Musik“, sagt Godewind-Sängerin Anja Bublitz.
An ihren ersten Workshop für „Musik in uns“ vor zwölf Jahren kann sie sich auch heute noch sehr genau erinnern. „Das war der totale Hammer“, platzt es aus der energiegeladenen Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur heraus. „Wir waren damals ziemlich aufgeregt und auch etwas unsicher“, erinnert sie sich. „Es war schließlich das erste Mal, dass wir so etwas gemacht haben.“ Aber diese Unsicherheit war nach wenigen Augenblicken komplett verflogen. „Die Offenheit und Herzlichkeit der Menschen hat mich einfach umgehauen“, sagt Anja Bublitz. „Und? Nimmst du auch Medikamente?“ hatte sie ein Teilnehmer kurz nach der Begrüßung gefragt. „Das hat ihn halt interessiert“, lacht die Sängerin. „Es gab von Anfang an keine Tabus, keine Filter, keine Berührungsängste. Das war alles echt und ehrlich. Wir kamen rein, haben gequatscht und das Eis war sofort gebrochen.“
Seit dieser ersten Veranstaltung werden Menschen mit Behinderungen aus insgesamt 14 Einrichtungen der NGD-Gruppe regelmäßig dazu aufgerufen, sich für eine Teilnahme am jährlichen Band-Workshop zu bewerben. Das Prozedere ist dabei denkbar niederschwellig gehalten: „Wer Lust und Interesse an Musik hat, kann sich einfach mit einem Zettel bewerben, auf dem er neben seinem Namen kurz aufgeschrieben hat, was er musikalisch kann oder was er zu einer neuen Band beitragen möchte“, sagt Birgit Schatz.
Damit sich die Zusammensetzung in jedem Jahr unterscheidet und nicht immer dieselben erfahrenen Musiker zum Zug kommen, sondern möglichst viele an diesem Erlebnis teilhaben können, ist die Teilnahme in der Regel auf ein Jahr begrenzt. „Es gibt allerdings Ausnahmen“, verrät die Organisatorin. „Wir haben immer sehr viele Bewerbungen für den Bereich Gesang, aber meist nur wenige Kandidaten, die ein Instrument spielen können.“ Da das Ziel allerdings die Zusammenstellung einer Band ist und nicht die eines Chores, nehmen es die Organisatoren bei Keyboardern, Bassisten und Gitarristen mit der Nur-einmal-Regel nicht ganz so eng.
Eine dieser Ausnahmen ist Thomas Schieszl. Er ist bereits zum vierten Mal dabei, ist ein erfahrener Musiker, der unter anderem Gitarre und Keyboard spielt und sogar eigene Songs schreibt. „Die sind oft nicht gerade fröhlich, aber für mich sind sie ein gutes Ventil, wenn ich gerade in einer Phase stecke, in der es mir mental nicht so gut geht.“ Er arbeitet in der Boje, einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung in Itzehoe. Beim Abschlusskonzert hat er seinen selbst geschriebenen Song „Meine Reise“ als Solo-Nummer auf die Bühne gebracht – eindringlich, nachdenklich und absolut professionell.
Von der Veranstaltung an sich ist Thomas Schieszl auch nach seiner vierten Teilnahme nach wie vor begeistert. Ob er sich auch ein fünftes Mal im nächsten Jahr vorstellen kann? „Wenn ich noch mal darf, nichts lieber als das“, sagt der 39-Jährige ohne Zögern. Godewind seien „nicht nur 1-a-Profimusiker, sondern auch supersympathische Typen“, mit denen er die Zusammenarbeit sehr genieße. Nur der Rücken zwickt. Deshalb trägt Thomas Schieszl während der Proben Motorradlederhosen, in die er hinten eine Wärmflasche gesteckt hat. „Ich habe öfter mal Probleme mit Verspannungen, die aber meistens nach ein paar Tagen von alleine verschwinden“, zuckt er lächelnd mit den Schultern. „Nur diesmal nicht.“ Spaß an der Musik hat der Workshop-Routinier trotzdem.
Eine Premiere ist „Musik in uns“ dagegen für Nele Krupski. Die 27-jährige Rollstuhlfahrerin lebt in einem Mehrgenerationenhaus für selbstbestimmtes Wohnen in Elmshorn und arbeitet in den Glückstädter Werkstätten im Bereich Montage und Verpackung. Dort singt sie in einer Werkstatt-Band und hat sich auch für „Musik in uns“ als Sängerin beworben. „Ich singe einfach so unglaublich gern“, strahlt sie und erzählt von den tollen Menschen, die sie während des Workshops kennengelernt hat, von den vielen neuen Eindrücken und davon, dass das alles selbst für eine Frohnatur wie sie doch auch durchaus sehr anstrengend sein kann. „Es ist schon echt viel, was in kurzer Zeit auf einen einprasselt“, sagt sie. „Nach dem zweiten Tag war mein Gehirn jedenfalls Matsch.“
Nele Krupski spricht viel, lebendig und so schnell, dass man manchmal den Eindruck hat, ihr Mund kann die ganzen interessanten Gedanken gar nicht so schnell formulieren, wie sie in ihrem Kopf entstehen. Dabei versprüht sie durchgängig erfrischend gute Laune und hat wirklich gar kein Problem mit zu geringem Selbstbewusstsein. „Sie merken schon, ich bin sehr redegewandt“, hatte sie noch am Vormittag erklärt, um dann am Abend auf der Bühne nicht nur als Sängerin aufzutrumpfen, sondern gleich auch noch Teile der Moderation zu übernehmen.
Dieses Aufblühen der Teilnehmenden ist ganz typisch. „In jedem Jahr beobachten wir wieder mit großer Freude, wie die Menschen aus den Werkstätten in dieser entstehen den musikalischen Gemeinschaft über sich hinauswachsen und ganz neue Seiten und Fähigkeiten an sich selbst entdecken“, sagt Birgit Schatz. Beim Blick in die Vergangenheit des Projekts erinnert sie sich freudestrahlend an immer mehr kleine Details und versprüht beim Erzählen eine Begeisterung, die ansteckend wirkt.
Auch Thomas Reißmann ist so ein Beispiel. Mit der Teilnahme am Workshop wagt der Autist den Sprung ins kalte Wasser. Er hat noch nie in einer Band gespielt, hat keine Gesangsausbildung und keine besonderen Kenntnisse. Nur seine Liebe zur Musik und eine gesunde Portion Mut: „Ich habe mitbekommen, wie die anderen aus meiner Werkstatt bei ‚Musik in uns’ teilgenommen haben. Und was die anderen können, das kann ich auch.“ Auch er singt beim Abschlusskonzert eine kurze Solo-Nummer und genießt den anschließenden Applaus in vollen Zügen.
Selbst regelrechte Entwicklungssprünge sind schon vorgekommen, die Organisatoren, Teilnehmende und Angehörige gleichermaßen überrascht haben. „Ich habe schon Autisten erlebt, die ein paar Jahre zuvor mit niemandem reden konnten, aber hier nach ein bisschen Anlaufzeit gut gelaunt auf der Bühne durch den Abend geführt haben“, erinnert sich Birgit Schatz mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Stolz. „Und solche Geschichten sind natürlich wirklich toll.“ Einen großen Anteil daran, dass so etwas möglich ist, haben die Coaches von Godewind, die ihre Aufgabe ebenfalls merklich mit Herzblut erfüllen und in drei Tagen aus zwölf Teilnehmenden mit eher weniger als mehr Musikerfahrung eine Band gemacht haben, die vor Spaß und Spielfreude schier übersprudelt.
Die Geschichte zur neuen Freundschaft von Michael Schulz und Marc Zerrahn erzählt dann noch Godewind-Sängerin Anja Bublitz dem staunenden Publikum: Am ersten Tag des Workshops wurde darüber beraten, welche Songs man denn einstudieren solle. Reihum machten die Teilnehmenden Vorschläge, von denen einige auch kurz angesungen wurden. Als Marc Zerrahn an der Reihe war, hatte er Tom Astors „Flieg junger Adler“ angestimmt und zunächst sogar die Profimusiker ratlos gemacht. „Niemand kannte das“, erinnert sich Anja Bublitz lachend. Niemand außer Michael Schulz. Denn der ist ebenfalls Tom-Astor-Fan und stimmte nach kurzem Zögern lautstark, entschlossen und textsicher mit ein. Zur Überraschung aller Anwesenden. „Die haben das von vorne bis hinten komplett durchgesungen“, kann es Anja Bublitz immer noch nicht ganz fassen. Anschließend waren die jungen Männer, die sich gerade kennengelernt hatten, die dicksten Freunde. Dass Musik verbindet, scheint zu stimmen.